Timing-Versuche gehen fast immer schief
Im August 2012 hatte ich ein Gespräch mit einem Anleger. Er war pessimistisch, was die weitere Börsenentwicklung betrifft. Aktuell war er stark in Aktien engagiert und dachte darüber nach, Gewinne zu realisieren. Seine Idee war: Die angefallenen Gewinne jetzt erst einmal zu sichern und abwarten, bis die Kurse wieder deutlich niedriger als aktuell sind und dann wieder einsteigen.
Ich habe den Kunden dringend davor gewarnt, sich auf Timing-Versuche einzulassen. Ich sagte ihm, dass ich in meiner über 20-jährigen Erfahrung im Kapitalanlagebereich bis auf ganz, ganz wenige Ausnahmen noch nicht erlebt habe, dass Anleger mit Timing Erfolg hatten. Gerade im Gegenteil…
Ich erzählte ihm zum Beispiel von einem Kunden von mir, der mich im März 2009 bat, sein ganzes Aktiendepot zu liquidieren, da er der Meinung war, dass die Finanzkrise die Kurse noch weiter fallen lassen würde. Der arme Mann hat wirklich auf den Tag genau den Tiefpunkt der Börsenentwicklung erwischt. Von jenem Tag im März 2009 an ging es nur noch nach oben. Die entstandenen Verluste (tatsächlich realisierte Verluste, aber auch entgangene Gewinne) sind für ihn bis heute ins Unermessliche gestiegen – alles aufgrund seines Timing-Versuchs.
Oder ein anderer Anleger, der tatsächlich rechtzeitig Mitte 2008 seine Aktien verkaufte. Gerade noch rechtzeitig vor dem großen Crash. Dieser Anleger konnte sich über sein geglücktes Timing freuen. Aber eben auch nicht langfristig. Denn bis heute hat er einen Wiedereinstieg versäumt. Wäre er Mitte 2008 in seinen Aktien geblieben und hätte sie bis heute durchgehalten, dann hätte er heute mehr Geld.
Ich sage immer: Die Entscheidung für oder gegen Aktien sollte eine strategische Entscheidung sein, keine taktische. Was will ich damit sagen?
Wenn man sich für Aktien entscheidet, dann sollte das immer eine langfristige Angelegenheit sein, die man nicht von einem Tag auf den anderen über den Haufen schmeißen sollte. Idealerweise legt man sowieso nur mit einem genau festgelegten Anlagekonzept an. Und dieses Konzept sollte immer auch das Szenario eines starken Kursrückgangs berücksichtigen.
Legt man auf der Grundlage eine klar definierten Anlagekonzepts an, so fallen spontane Bauchentscheidungen weg. Das ist der Hauptzweck eines solchen Konzepts. Denn der größte Feind des Anlegers ist nicht etwa die Börse, sondern die eigene Psyche.
Aus meiner Sicht ist es vollkommen legitim, sich ganz oder teilweise vom Aktienmarkt zu verabschieden. Wenn man keine entsprechend hohe Renditen braucht, und die mit Aktien verbunden Risiken scheut, dann ist das eine durchaus rationale Entscheidung.
Aber auch diese Entscheidung sollte Bestand haben. Gefährlich ist es, wenn man seine Meinung alle paar Monate ändert. Nach dem Motto: heute rein, morgen raus. Das ständige Hin und Her führt – nachweislich – zu hohen Verlusten.
Wenn man sich für Aktien entschieden hat, dann sind Versuche, durch Timing einen Mehrwert zu schaffen, fast sicher zum Scheitern verurteilt. Das sagen einem wissenschaftliche Studien (die es zu diesem Thema gibt). Das sagt mir aber auch meine langjährige Erfahrung im Kapitalanlagebereich.
Und das aller Merkwürdigste ist, dass mir dies so wenig Anleger glauben. Immer wieder treffe ich auf Anleger, die fest davon überzeugt sind, durch Timing-Entscheidungen („Jetzt mal schnell raus, abwarten bis die Kurse wieder unten sind und dann wieder rein.“) erfolgreich Geld verdienen können. Meine Erfahrung ist ferner, dass diese Timing-Überzeugten, selbst wenn ich ihnen die wissenschaftlichen Studien vorlege und von meinen persönlichen Erfahrungen erzähle, dennoch meinen, sie selbst hätten diese magische Fähigkeit, gute Timing-Entscheidungen zu treffen.
Das ist etwa so als würde man mit jemanden reden, der fest davon überzeugt ist, dass einem Lotto reich macht. Alle rationalen Überlegungen müssten einem davon überzeugen, dass man besser nicht Lotto spielt. Die Wahrscheinlichkeit, am Ende mit Lotto Verluste gemacht zu haben, ist einfach zu groß. Und dennoch gibt es Menschen, die durch Lotto immens reich geworden sind.
Wenn ich einem Lotto-Spieler rate, das Lottospielen besser sein zu lassen, er aber nach drei Wochen einen Hauptgewinn gezogen hat, dann wird er vielleicht sagen: Gott sei dank habe ich nicht auf den Dr. Peterreins gehört. Sein Rat hätte zur Folge gehabt, dass ich jetzt nicht im Lotto gewonnen hätte.
Und so ist es auch mit Timing. Ja, es ist denkbar, dass man mit seiner Timing-Entscheidung exakt goldrichtig liegt. Dass jemand, der heute all seine Aktien verkaufen will, auf den Tag genau den Höhepunkt trifft, dass danach die Kurse 20 % einknicken und er wieder am Tiefpunkt einsteigt. Ja, das ist denkbar.
Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Privatanleger das genau so hinbekommt, ist ungefähr so wahrscheinlich wie ein 6er im Lotto. Ich kann es nicht ausschließen, aber die Sache ist so unwahrscheinlich, dass es eigentlich rational ist, so etwas erst gar nicht zu versuchen.
Und dennoch versuchen es die Leute immer und immer wieder. (Wie beim Lotto.)
Auch der Anleger, mit dem ich im August 2012 sprach, war nicht davon zu überzeugen, von seinen Timing-Versuchen abzulassen. Seine Argumente:
- Der DAX ist in den letzten Monaten sowieso schon exorbitant gestiegen, da müsse doch jetzt irgendwann einmal wieder eine Korrektur kommen.
- Die Finanzkrise ist ja noch nicht wirklich ausgestanden. Man müsse doch nur in die Medien schauen. Da wird sicher noch irgendetwas kommen.
- Jetzt kommen sowieso noch der September und der Oktober. Und das sind doch erfahrungsgemäß recht schlechte Börsenmonate.
Der gute Mann stieg also aus – bei einem DAX-Stand von etwa 7000. Im September und Oktober 2012 gab es – wider Erwarten – keine großen Kurseinbrüche. Der Anleger wartete noch mit seinem Wiedereinstieg. Zum Jahresende 2012 bewegte sich der DAX in Richtung 8000. Der Anleger wartete mit seinem Wiedereinstieg. Ende 2013 übersprang der DAX die 9000-Marke. Der Anleger wartete mit dem Wiedereinstieg (inzwischen hatte er zunehmend schlechten Schlaf). Mitte 2014 ging der DAX in Richtung 10.000. Der Anleger wartete mit dem Wiedereinstieg.
Der genannte Anleger wartet bis heute. Und inzwischen hat seine Timing-Entscheidung dazu geführt, dass er etwa 38 % Rendite nicht mit genommen hat. Bezogen auf sein im August 2012 liquidiertes Aktienvermögen, sind diesem Anleger etwa 135.000 Euro Gewinn entgangen. Anders formuliert: Hätte er damals auf mich gehört und hätte auf seine Timing-Versuche verzichtet, wäre er heute 135.000 Euro reicher.
Und solche Geschichten könnte ich massenweise erzählen. Wahrscheinlich haben Anleger unterm Strich mehr Geld durch ihre Timing-Versuche verloren als durch Aktien-Crashs.
Tja, der Verstand mag das ja vielleicht noch verstehen, aber wenn der Bauch sagt, verkaufen, dann wird das sehr schwer.
Vielleicht hängt es dann aber auch mit der Verteilung auf die unterschiedlichen Assets zusammen. Meine persönliche Erfahrung ist, dass ich einen „Wohlfühlbereich“ hinsichtlich der Höhe meiner Anlagesumme auf einzelne Aktien/ Fonds habe. Überschreite ich diesen „Wohlfühlbereich“ werde ich unruhig. Das gilt auch für den Fall, das die Investition Gewinne macht und erst recht natürlich bei Verlusten.
Gewinne sehe ich dann immer schwinden. Verluste tun weh. Bei kleineren Beträgen im Plus macht mir das seltsamerweise weniger aus, da kann ich dann auch das Verschwinden der Buch-Gewinne akzeptieren.
Das führte bei mir dazu, dass ich relativ viele Positionen mit kleinen Beträgen im Depot hatte und jetzt erst langsam versuche, meinen „Anlage-Wohlfühlbereich“ nach oben auszudehnen. Das geschieht aber ganz bewusst.
Vielen Dank für Ihren Beitrag. Meine Empfehlung ist daher, sich Methoden zu überlegen, um das „Bauchgefühl“ möglichst auszuschalten. Eine sehr einfache und effiziente Methode besteht beispielsweise darin, sich Soll-Quoten vorzugeben und dann immer wieder ein Rebalancing vorzunehmen, d.h. die Ist-Quoten wieder an die Soll-Quoten anzupassen. Man muss sich hier nur nach Zahlen richten, Denken oder Fühlen ist nicht mehr notwendig.
Es ist gemeinhin bekannt, dass ein Verkauf von Aktien am Tiefpunkt nicht sehr klug ist, bloß wie steigt man am besten aus? Stop-loss? Auch bei Aktienfonds?
Man steigt dann am besten aus, wenn man das Geld braucht. Oder wenn man zur Erreichung seiner Anlageziele keine hohen Zielrenditen mehr braucht und deswegen auf riskante Anlageformen mit hohen Zielrenditen verzichten kann. Das sind beides sehr gute und rationale Gründe für den Verkauf von Aktien. Keine guten Gründe sind: „Ich erwarte künftig einen dramatischen Kursrückgang“ oder „Die Aktien sind schon so gut gelaufen, da muss jetzt demnächst eine Korrektur kommen“ oder „An Gewinnmitnahmen ist noch niemand arm geworden“ oder „Die Charttechnik für den Aktienmarkt sieht gerade schlecht aus“ …
Hallo Herr Peterreins,
wenn ich mit Bekannten über das Thema spreche sind es eigentlich immer zwei Argumente die pro Markttiming kommen.
1.) Erfahrung: Im Fußball werden Torschüsse trainiert, ein Auszublildender kann weniger als der Meister, denn es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Dieses Wissen wird auf die Aktienmärkte übertragen. Wenn man oft genug falsch gelegen hat (Lehrgeld bezahlt hat), dann wird die Trefferquote irgendwann steigen. Markttiming ist eben ein Lernprozeß, so wie alles im Leben.
2.) Als Beleg für die obige These werden Erfolgsgeschichten aus der Presse zitiert. Der XY hat dann und dann das gekauft /verkauft und hat damit wahlweise verkauft bevor der Crash kam oder gekauft, bevor der Boom kam.
Mein Argument, dass auch eie stehengebliebene Uhr zwei Mal täglich die korrekte Zeit anzeigt, wird dann nicht gern gehört.
Dieses „Erfahrung zahlt sich aus“ ist in vielen Menschen so tief verwurzelt, dass es ihnen schwerfällt zu lauben, dass diese Regel für das Markttiming nicht gilt.
Da kann man sich den Mund fusselig reden.
Gruß
Finanzwesir
In manchen Bereichen stimmt es ja, dass man mit zunehmender Erfahrung auch eine zunehmend treffsichere Intuition bekommt. Dazu gehören: Ärzte, Feuerwehrleute, und ähnliche. Es gibt aber auch Bereiche, bei denen ein Mehr an Erfahrung keine treffsichere Intuition zur Folge haben muss. Dazu gehört beispielsweise das Würfelspiel. Kein Mensch wird glauben, dass jemand, der besonders viel gewürfelt hat, deswegen besser darin sein könnte, die Augenzahl eines nächsten Würfelwurfs prognostizieren zu können. Hier bringt Erfahrung offensichtlich gar nichts. Oder beim Lottospiel oder ähnlichem.
Mit dieser Unterscheidung hat sich übrigens Daniel Kahneman in seinem Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“ auseinandergesetzt.
Wichtig ist nun zu begreifen, dass Timing-Versuche eher einem Würfelspiel gleichen als der Diagnose eines Arztes. Wissenschaftliche Studien zu diesem Thema sind jedenfalls eindeutig. Dass nämlich Timing am Aktienmarkt nicht durch Erfahrung verbesserbar ist.