Geringe Wahrscheinlichkeiten werden entweder unter- oder überschätzt

Ich lese ja gerade das sehr interessante Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahnemann. Auf den Seiten 409 ff. steht:

„Die Bedingungen, unter denen seltene Ereignisse ignoriert oder übergewichtet werden, lassen sich heute besser verstehen … Ein seltenes Ereignis wird übergewichtet, wenn es gesondert Aufmerksamkeit auf sich zieht… Zwanghafte Ängste …, plastische Bilder …, explizite Erinnerungen … tragen alle zur Übergewichtung bei. Und wenn keine Übergewichtung stattfindet, kommt es zu Vernachlässigung [meine Hervorhebung]. Unser Gehirn ist nicht dafür ausgelegt, geringe Wahrscheinlichkeiten richtig einzuschätzen…“

Im Geldanlagebereich hat man ständig das Phänomen, dass seltene Ereignisse entweder sträflich vernachlässigt oder dramatisch übertrieben werden…

Nehmen wir als Beispiel das Emittentenrisiko. Bis zur Lehman-Pleite im Jahre 2008 haben viele Anleger diese Art von Risiko kaum wahrgenommen. Jeder, der sich mit Anleihen oder Zertifikaten professionell beschäftigt, wusste schon immer, dass eines der wichtigsten Risiken in diesem Segment das Emittentenrisiko ist.

Dieses Wissen wurde aber von vielen Anlegern vor 2008 nicht beachtet. Nicht wenige setzten bedenkenlos alles auf eine Karte, indem sie Anleihen oder Zertifikate nur eines einzigen Emittenten erwarben.

Dann kam die Lehman-Pleite. Und mit einem Male ist das Emittentenrisiko in aller Munde. Und mit einem Male scheint der Ausfall eines Emittenten das wichtigste Risiko schlechthin zu sein. Wird nur der Hauch eines Emittentenrisikos gewittert (wie beispielsweise bei swpabaiserten ETFs), dann ergreifen viele Anleger schon die Flucht.

Das, wofür sich noch vor ein paar Jahren niemand interessiert hat, wird plötzlich über die Maßen wichtig genommen. Und eines ist schon heute klar: Sollte in den nächsten Jahren kein spektakulärer Ausfall eines Emittenten stattfinden, dann werden viele Anleger das Emittentenrisiko wieder anfangen zu unterschätzen.

Ein anderes Beispiel ist das Crash-Risiko bei Aktien. Jeder der Aktien erwirbt, muss damit rechnen, in einer Crash-Situation hohe Verluste erleiden zu müssen. Das war schon immer so. Dennoch gab es – und es ist gar nicht so lange her – eine Zeit, da vernachlässigten viele Anleger dieses Risiko. Nicht wenige glaubten in den 1990er Jahren: „Mit Aktien kann es nur bergauf gehen, dramatische Kursverluste hat es vielleicht in der Vergangenheit irgendwann einmal gegeben, aber die Zeiten haben sich verändert. Ab sofort gibt es nur noch Kursgewinne mit Aktien.“

Jetzt haben wir ein paar schwierige Jahre gehabt, bei den Aktien zum Teil dramatische Wertverluste hinnehmen mussten. Also wird dieses Risiko derzeit von einigen Anlegern tendenziell überschätzt. Nicht wenige meiden aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre gänzlich die Anlageform Aktien. Auch hier wird schwanken die Anleger dazwischen, einmal das Risiko zu unterschätzen, dann wieder zu überschätzen. Eine (rationale) Mitte scheint es nicht zu geben.

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